Über Ärger, Schuld und Macht

Liebe Anna!

 

Ich sag nur: Elternsprechstunde oder der Versuch, auf dringenden Wunsch meiner Tochter ein Gespräch mit einem Außerirdischen zu führen.

 

Es war letzten Freitag Vormittag, die Sonne schien und die Vögel zwitscherten. Herr Professor und ich saßen einander gegenüber und nach gefühlten 10 Sekunden war eines klar: die Sympathie muss ihr Glück wo anders suchen. An diesem Tisch wird das nichts. 

 

Meine Worte prallten am Herrn Professor ab wie Regentropfen auf gewachstem Lack. Während er mir Fragen beantwortete, die ich nie gestellt habe, ließ mich das Gefühl nicht los, dass jeder weitere Versuch, eine sinnvolle Konversation zu führen, genauso vielversprechend war, wie einem Regenwurm Statistik zu erklären. Nach 9 unerfreulichen Minuten verabschiedeten wir uns in angemessener Höflichkeit und förmlicher Kälte. 

Und weißt du was? Ich freue mich über mich selbst, weil ich mich nicht mehr wirklich aufrege über Herrn Professor. Das wäre vor einigen Jahren tatsächlich ganz anders gewesen. Damals hätte ich dich bestimmt umgehend angerufen, um ihn in alle Einzelteile zu zerlegen und um mein Unverständnis, meine Wut und meine Fassungslosigkeit mit dir zu analysieren. Tagelang hätten sich meine Gedanken mit ihm beschäftigt und überall hätte ich ihn im Geiste mitgenommen: ans Meer, in die Sauna, ins Restaurant, in den Schlaf ....

Aber Gott - oder wem auch immer sei Dank - habe ich mich, was das betrifft, verändert. Ich kann jetzt (fast immer) akzeptieren, was ich nicht beeinflussen kann und meine Energie für Dinge einsetzen, die ich ändern kann: wie meine Einstellung zum Beispiel. In diesem Fall war meine Einstellung nämlich, dass es ein "Muss" ist, Schülern respektvoll und mit einer Leidenschaft für das eigene Unterrichtsfach zu begegnen. Aber nein, ein "Muss" ist das nicht. Es wäre zwar sehr schön, entspricht aber nicht immer der Realität.

Meine Aufmerksamkeit widme ich jetzt lieber meiner Tochter, um ihr beizubringen, wie sie sich auch in der Gegenwart von herausfordernden Menschen gut fühlen kann.

 

Ich hab ihr folgende Tipps gegeben:

  • achte auf deine Atmung - sonst passiert es leicht, dass du in der Gegenwart von unangenehmen Menschen deine Atmung auf ein Minimum reduzierst. Das sichert zwar dein Überleben, lässt dich selbst aber kleiner und dein Gegenüber noch größer und mächtiger erscheinen. Atme also tief und ruhig.
  • Nimm deinen gesamten Körper wahr. Nimm deinen Raum ein und entspanne dich darin, so gut du kannst.
  • Akzeptiere, was jetzt ist. Nichts bleibt ewig.
  • Übe dich in Mitgefühl. Auch der Herr Professor hat vermutlich ein Herz. Du kennst seine Geschichte nicht - alles hat seinen Grund. Akzeptanz befreit dich.
  • Sei dir bewusst, dass du IMMER(!) selbst verantwortlich bist für dein Denken, dein Handeln und auch für dein Nichthandeln. 
  • Gib ihm auf keinen Fall die Schuld für dein Unwohlsein. Wem du die Schuld gibst, gibst du die Macht - und du bist sein Opfer. Das willst du doch nicht, oder?
  • Wie er sich verhält, sagt viel mehr über ihn aus als über dich. Nimm sein Verhalten nicht persönlich.

So gesehen gibt uns Herr Professor über eventuelle Wissensvermittlung hinaus die Möglichkeit, viel durch sein Verhalten zu lernen. Denn die Fähigkeit, sich in entsprechenden Situationen für Gelassenheit und Akzeptanz anstatt für Provokation, Angst und Widerstand zu entscheiden, ist von unschätzbarem Wert. 

Also dann - ich werde mich jetzt hinsetzten und meine Meditationseinheit für heute verdoppeln. Das kann nicht schaden.

 

Doris

Wem du die Schuld gibst, gibst du die Macht. Und du bist sein Opfer.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0